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Meine Angststörung

Wie mich 14 Jahre Angst als Mensch geprägt haben, was eine OP damit zu tun hat und wie es mir heute geht.

 


2020 schrieb ich den Artikel "Erythrophobie", mit dem ich erstmals über meine Angststörung berichtete. Neben einem Einblick in meine persönlichen Erfahrungen mit dieser Angst, erklärte ich auch die Ursache der Erythrophobie, also der Angst vor dem Erröten. In diesem Artikel möchte ich jedoch nochmal mehr auf meine persönlichen Erlebnisse in Verbindung mit einer Angststörung, aber auch auf meine Fortschritte seit dem letzten Artikel eingehen.


Die Tatsache, dass ich erst jetzt, 2024, vier Jahre nach dem ersten Artikel wieder zu meiner Angststörung berichte, ist nicht Nachlässigkeit oder Bequemlichkeit geschuldet, sondern verdeutlicht vielmehr die Komplexität unseres Nervensystems! Wenn es nach mir ginge, hätten sich meine Nerven auch gern etwas schneller regenerieren und heilen dürfen, aber das Leben ist eben kein Wunschkonzert...


|Die Anfänge


Für mich begann diese Angst mit 16 Jahren, als ich von meinem behüteten Schulalltag in das verantwortungsvolle Berufsleben eintauchte. Und schon damals wurde der Leistungsgedanke groß geschrieben - bei meinem Arbeitgeber, aber auch bei mir.

Vor allem bei mir!


Ich hatte immer Angst nicht gut genug zu sein, nicht die richtigen oder gar dumme Fragen zu stellen oder etwas einfach nicht zu können. Obwohl diese Zweifel und Ängste in gewissem Maße schon während meiner Schulzeit in mir schlummerten, brachen sie damals deutlich seltener und auch weniger intensiv aus mir heraus. Ganz im Gegenteil sogar - ich war über meine Schulzeit hinweg ein überwiegend selbstbewusster Mensch, war mutig und ging auch mal voran. Ich liebte es vor der Klasse Vorträge zu halten und verspürte wenn überhaupt Nervosität oder eben in geringem Maße Zweifel und Ängste, jedoch mehr in Bezug darauf, die Erwartungen meiner Eltern und Lehrer erfüllen zu wollen und nicht unbedingt in Bezug auf mich als Person!


|Persönlichkeitsveränderung


Als mit 16 Jahren plötzlich und völlig unerwartet diese Welle an Adrenalin über mich schwappte, wurde ich schlagartig ein anderer Charakter. Mein Selbstbewusstsein wich der Angst und Selbstzweifel nahmen mir die Energie und Freude am Leben. Und so ging ich tagein, tagaus extrem gestresst in die Arbeit oder die Berufsschule. Ich stand so unter Druck, nicht versagen zu wollen und alle Menschen um mich herum zufrieden zu stellen, dass ich immer mehr gesundheitliche Probleme entwickelte - das ständige Erröten war irgendwann nur eines von vielen dieser Probleme!


Eines Tages nach der Arbeit, bekam ich dann meine erste Panikattacke in meinem Kinderzimmer. Ich fühlte plötzlich immer diese Enge auf der Brust, die ständige Angespanntheit und Nervosität meines Körpers verunsicherten mich massiv. Anfangs versuchte ich noch nach außen hin mein altes Ich aufrechtzuerhalten, doch jedes Mal, wenn ich vor einer Gruppe Mitschülern, Freunden oder Arbeitskollegen unerklärlicherweise rot wurde, bröckelte die Fassade. Ich malte mir dann immer aus, wie ich einfach aus der Tür renne und aus der Situation flüchte. Es letztlich nicht zu tun und in der Situation gefangen zu sein, den Blicken der Anderen machtlos ausgesetzt zu sein und das mal leisere, mal lautere Getuschel zu hören, machte mich verrückt und zog mich immer tiefer in den Sog der Angst, der Panik und der Hilflosigkeit. Was mich in dieser Anfangszeit meiner Angststörung so schockierte, war die Tatsache, dass ich quasi über Nacht zu einem anderen Menschen wurde, dass ich nicht mehr ich sein konnte.


|Isolation


Zu dieser Zeit, als sich die Angst in meinem Körper gerade zu perpetuieren begann, begann ich Vermeidungstaktiken an den Tag zu legen (Verabredungen absagen, weil es dort ja potentielle Rotwerde-Situationen geben könnte, nicht mit Freunden die Schulpause verbringen, häufig grundlos auf die Toilette gehen, um die Gesichtsfarbe zu überprüfen, etc.). Ich reagierte plötzlich sensibel auf so viele Dinge, wie zum Beispiel kleine, enge Räume, sehr helle Räume, künstliches Licht, direkte Sonneneinstrahlung auf meiner Haut (Gesicht), Wärme bzw. zu warme/heiße Räume, statische bzw. wenig dynamische Handlungen (langes Anstehen an der Supermarktkasse, am Kaffeetisch mit anderen Menschen sitzen, etc.), im Mittelpunkt stehen (in der Berufsschulklasse aufgerufen werden oder einen Vortrag halten, lange Gespräche mit anderen Menschen, vor allem fremden Menschen, etc.) - all diese Dinge und noch vieles mehr waren auf einmal potentielle Rotwerde-Situationen, die mir Angst machten. Es gab irgendwann praktisch nichts mehr, bei dem die Angst nicht mein Begleiter war, selbst wenn ich alleine zu Hause war und beispielsweise ein Buch las, wurde ich rot.


Seit dieser Zeit waren die Tage für mich stets eine Herausforderung; ich empfand es als wahnsinnig anstrengend trotz meiner Probleme nach außen hin ein fröhlicher Mensch zu sein und zu funktionieren. Abends, wenn ich nach Hause kam und alleine sein konnte, fiel mein Kartenhaus dann in sich zusammen. Schlaf war "der einzig sichere Ort" für mich, an dem ich die Hitze in meinem Körper, die Enge auf der Brust und das Kribbeln auf der Haut nicht mehr spüren musste. Zweimal isolierte ich mich aufgrund meiner Angst - jeweils ein halbes Jahr. Ich hatte in diesen Zeiten mit niemandem außer meiner Familie Kontakt und funktionierte letztlich nur noch wie ferngesteuert.


|Hoffnungsschimmer


Meine Freizeit verbrachte ich damit, das Internet hoch und runter zu recherchieren, was es mit dieser Angst und dem unerklärlich häufigen Erröten auf sich hatte und wurde nach etwa einem Jahr dann auch insoweit fündig, als dass ich herausfand, dass dieses Phänomen Erythrophobie heißt und es sogar ein Forum für Betroffene gab, ich also nicht die einzige Person mit dieser Krankheit war.


Als junge Frau beschäftigte ich mich dann auch mit kosmetischen Möglichkeiten, das Rotwerden zu vertuschen und fand tatsächlich eine grüne Creme, mit Hilfe derer es mir möglich war, das Erröten nach außen hin verschwinden zu lassen. Die Creme funktionierte deshalb so gut, da Grün in der Farblehre die Komplementärfarbe von Rot ist und daher - vereinfacht ausgedrückt - die Fähigkeit besitzt, Rot verblassen zu lassen. Ich trug die grüne Creme großflächig auf meinen Wangen auf und arbeitete darüber mein Make-Up ein. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als eine damalige Freundin mich nach meinem ersten Schminkversuch fragte, warum ich denn so stark geschminkt sei, denn eigentlich war ich immer sehr dezent geschminkt. Schon bald wurde ich aber routinierter und bekam ein für mein Alter angemessenes Schminkergebnis hin.


Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, durch die Creme und das Verschwinden meines Errötens mein Leben wieder etwas mehr im Griff zu haben und genießen zu können. Schließlich ist das durch das Erröten ungewollte bewertet werden und in eine Schublade geschoben werden (die/der ist nicht so belastbar, schämt sich für vieles, ist unsicher, hat wenig Selbstbewusstsein, ist schwach...) ein Aspekt, der die Angst begünstigt. Für einen kurzen Moment musste ich mich mit diesem Teil - dem sichtbaren Teil - der Angst also nicht mehr beschäftigen, bis ich etwa ein Jahr später mit ca. 22 Jahren (genau kann ich mich leider nicht mehr daran erinnern) feststellen musste, dass es die grüne Creme nicht mehr zu kaufen gab, sie war aus dem Sortiment genommen worden. Nachdem andere grüne Cremes, die ich ausprobierte, nicht denselben Effekt hatten, war ich wieder am selben Punkt wie zuvor. Da stand ich also wieder, mit der Angst und dem Erröten!


|Sinnkrise


Unaufhörlich recherchierte ich immer weiter auf der Suche nach Antworten, nach einer Lösung. 2016 stieß ich dann letztlich auf einen Münchner Arzt, der sich als einer von wenigen in Deutschland mit der Thematik Erythrophobie beschäftigte. Einige Monate war ich dort in Behandlung. In dieser Zeit schöpften wir zunächst alle konservativen Methoden (spezielle Creme, Betablocker, Therapie) aus, um die Angststörung loszubekommen oder zumindest zu lindern. Doch all diese Methoden brachten nicht den gewünschten Erfolg, sodass die einzig verbleibende Möglichkeit, die Angststörung zu behandeln, eine Operation war.


Sechs Jahre litt ich zu diesem Zeitpunkt bereits an der Krankheit und mein Leidensdruck war bereits ins Unermessliche gestiegen. Aus diesem Grund entschied ich mich auch für die OP, obwohl ich extremen Respekt davor hatte. Bei der OP wird ein Nerv an einer ganz bestimmten Stelle abgeclipt, sodass die Nervenimpulse unterdrückt werden. Wenn man so will, wird das Gehirn durch diese OP quasi ausgetrickst. Die fachliche Bezeichnung nennt sich endoskopisch transthorakales Sympathikus-Clipping (ETSC). Zwei Tage Klinikaufenthalt werden für diesen Eingriff eingeplant. Es waren zwei unglaublich anstrengende Tage für mich, da ich am laufenden Band ohnmächtig wurde - ganze zehnmal während des gesamten Aufenthalts. Am Ende der zwei Tage war ich wegen meiner Ohnmachtsneigung sogar eine kleine Berühmtheit auf meiner Station geworden. Ärzte aus anderen Stationen kamen sogar bei mir vorbei, um zu sehen, wer diese Frau war, von der alle sprachen, die ständig umkippte.


Heute weiß ich, dass die Ohnmachtsneigung, die ich schon seit dem Kleinkindalter habe/hatte, auf entzündete Nerven zurückzuführen ist. Kein Wunder also, dass meine Nerven bei einem Eingriff, bei dem selbige behandelt und wahrscheinlich weiter entzündet wurden, außer Kontrolle gerieten. Leider hatte die OP bei mir keinen Erfolg. Zwei Wochen später stand ich deshalb bereits wieder in Kontakt mit meinem Arzt für eine weitere OP, zu der es letztlich nie kam. Ich entschied mich im letzten Moment dagegen! Ich würde mit meinem heutigen Wissen auch die erste OP nicht mehr machen; irgendwie bereue ich diese Entscheidung auch, aber irgendwie auch nicht, denn die Verzweiflung und der Leidensdruck waren damals bereits so gigantisch und probiert hatte ich auch schon alles Mögliche, sodass mir die OP zu dieser Zeit eben als die einzig verbleibende Option erschien.


|Plateau


In den folgenden Jahren verblasste die Angst ein wenig. Mein Körper war förmlich in Adrenalin getränkt, sodass es immer größere, heftigere Adrenalinstürme in meinem Körper gebraucht hätte, um die bisher mir bekannten Angstsymptome auszulösen. Es wurde also alles etwas leichter, doch die innere Unruhe und Anspannung blieben. Die über Jahre hinweg antrainierten Denk- und Verhaltensmuster blieben. Ich arbeitete mich durch meinen hausgemachten Druck mir selbst gegenüber letztlich so kaputt, dass mein Körper Anfang 2019 für mich auf den Stoppknopf drückte! Zu dieser Zeit entdeckte ich dann Medical Medium, Anthony William.


|Fortschritt


Wie eingangs bereits erwähnt ist das Nervensystem ein äußerst komplexes System, sodass ich über die Jahre hinweg nur sehr langsam Fortschritte erzielen konnte, obwohl ich ein sehr strenges Protocol verfolge. Die Phase, in der meine Nerven sich bemerkbar machen, ist von Oktober bis April. Dieses halbe Jahr ist für mich bis heute eine Herausforderung. Denn nur, weil ich heute verstehe, was da in meinem Körper vor sich geht bzw. warum es vor sich geht, heißt das leider noch lange nicht, dass ich meine Gefühle einfach so umprogrammieren kann. Auch heute fühlt sich ein Tag, an dem ich erröte noch wie ein verlorener Tag, ein sehr trauriger Tag an.


Vergangenes Jahr, also von Oktober 2022 bis April 2023 hatte ich das Gefühl, als hätte ich einen riesigen Rückschritt gemacht. Ich wurde an jedem einzelnen Tag in der Arbeit rot! Am Wochenende konnte ich mich dann ausruhen, sofern da nicht auch noch Rotwerde-Situationen auf mich warteten, und mich mental stärken, bevor es dann am Montag wieder von vorn losging. Ich hoffte insgeheim, dass es bei der Erythrophobie vielleicht auch so ablaufen würde, wie bei den meisten meiner anderen Symptome, die alle nochmal richtig intensiv wurden, bevor sie endgültig verschwanden - wie ein letztes Aufbegehren.


Wenn ich dieses Jahr bzw. die "Anfälligkeitsperiode" 2023/2024 gedanklich so anschaue, dann scheint das vielleicht sogar wirklich so gewesen zu sein. Denn zum einen waren die Tage, an welchen ich errötete, deutlich weniger und zum anderen spürte ich im Februar 2024 eine starke Veränderung hinsichtlich des Rotwerdens. Als ich die Reihenfolge meiner Snacks, die ich seit vielen Jahren nachmittags (auch in der Arbeit) esse, insofern veränderte, als dass ich erst meine heißgeliebten Datteln und dann meine drei Äpfel aß, spürte ich, dass ich stressigen Situationen dadurch besser (also ohne Erröten) standhalten konnte. Zunächst freute ich mich natürlich darüber, weil ich es auf diese Weise schaffte, den gesamten Monat Februar ohne Rotwerden zu meistern, doch dann fing ich plötzlich an zu grübeln...


Ich erinnerte mich an Situationen aus der Vergangenheit (während meiner MM-Reise), in welchen ich sogar während des Essens rot wurde, also während ich mir die Glukose und Nährstoffe aus diversen Früchten & Co. einverleibte. Allein an der Umstellung meiner Essensreihenfolge konnte die positive Veränderung hinsichtlich des Errötens also nicht liegen. Daraufhin wurde mir klar, dass sich in meinem Körper nervlich etwas verändert haben musste, dass Nerven bzw. Nervenabschnitte zwischenzeitlich geheilt waren.


Die restliche Zeit der Anfälligkeitsperiode 2024, also März und April, verlief entsprechend meiner bisherigen Erfahrungen. Sowohl im März, als auch im April wurde ich dreimal im gesamten Monat rot. Das ist äußerst wenig und für mich daher ein echter Erfolg!


Ich frage mich oft, was ich für ein Mensch gewesen wäre, hätte ich nicht knapp die Hälfte meines Lebens mit einer Angststörung leben, nicht die Zwänge in meinem Kopf spüren müssen und stattdessen meinen Charakter frei und ungehindert ausleben und entfalten können.


Natürlich führt diese Frage ins Nichts; ich werde es letztlich nie erfahren. Ich bin mir aber sicher, dass - so paradox das vielleicht klingen mag - meine Krankheiten, insbesondere die Angststörung mich zu einem einfühlsameren, verständnisvolleren und toleranteren Menschen, also letztlich zu einem besseren Menschen gemacht haben. Denn ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man Menschen äußerlich häufig nicht ansieht, welches Päckchen sie zu tragen haben. Daher bin ich in gewisser Weise sogar dankbar für all die Krankheitsjahre und den Umstand, dass ich genau deshalb heute der Mensch bin, der ich eben bin.


Und am Ende ist es ja auch das Wichtigste, dass ich heute in der Lage bin, durch bewusst gewählte Entscheidungen im Leben (MM-Lebensstil!), meine Gesundheit selbst zu steuern. So bin ich auch fest davon überzeugt, dass ich in absehbarer Zeit ein angstfreies Leben führen kann!

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